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Street Art – Die neue Wahrnehmung des Stadtraums

21. Januar 2013
Tamara Marszalkowski
Wohnen & Leben
Stadt & Architektur

Der heutige Stadtraum zeichnet sich durch Anonymität aus. Eine technokratische Architektur wird hinter ihrer Beschriftung immer mehr zur Semiosphäre.

So genannte „Nicht-Orte“ (Marc Augé) prägen immer mehr das moderne Stadtbild und die Sinnentleerung von Orten nimmt immer weiter zu. Kommunikation findet auf medialer und virtueller Ebene statt, sodass die Stadt als Ort der Vergesellschaftung überholt ist. Die elektronische Kommunikation macht den öffentlichen Raum unnötig und so wird dieser Horror vacui hauptsächlich mit Zeichensystemen gefüllt, die einerseits der Orientierung innerhalb des Stadtraums dienen und andererseits von der Industrie beansprucht werden. Die Bevölkerung hingegen scheint die moderne Stadt als öffentlichen Raum nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Nicht nur Kommunikation findet fast ausschließlich in den Medien statt, auch die narrative Qualität der modernen Städte wurde immer weiter reduziert. Dieser Verlust geht nicht nur mit dem Verzicht auf die Erzählkompetenz von Gebäuden einher, auch das Abwandern des Erzählerischen in Medien und in geschlossene Räume trug dazu bei. Fassadenkunst und architecture parlante wurden von Buchdruck, Film und Galerien verdrängt. Diese narrative Kompetenz wurde so stark reduziert, dass wiederum die Schrift zum Einsatz kommen musste, um die Funktion der Gebäude zu kommunizieren. Der Piazzagedanke wurde in Deutschland aufgegeben und die Innenstädte wurden zum Durchgangsraum.

Unter öffentlichem Raum versteht man einen Bereich, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Auch geschlossene Räume wie Museen, Einkaufszentren und Malls werden diesem Begriff zugeordnet. Museen beispielsweise sind Räume, die für die Öffentlichkeit vorgesehen sind. In der Umsetzung sind sie allerdings nur für eine Teilöffentlichkeit begehbar. Denn Faktoren wie Eintrittspreise, Öffnungszeiten und andere Barrieren, so genannte Gatekeeper (Kurt Lewin), machen die Museen nicht für jeden zugänglich und kommen so dem oft propagierten Vorsatz „Bildung für alle“ (Hilmar Hoffmann) nicht nach. Hingegen richten sich Einkaufszentren ganz offen an eine kaufkräftige Teilöffentlichkeit. Die konsumorientierte Ausrichtung wird so stark, dass diese Orte gar keine Funktionsverschränkung aufweisen. Dabei wirkt sich eine hohe Funktionsdichte auf Orte identitätsstiftend aus. Der Vergleich solcher Einkaufszentren mit Monokulturen liegt nicht fern. Von der einst als Ideal angesehenen Agora, die eine hohe Funktionsdichte vorsah, sind die heutigen Großstädte weit entfernt. Die Gestaltung moderner Städte entspricht immer mehr den Vorstellungen einer „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) und bemüht sich, das Bedürfnis nach „Spektakel“ (Guy Debord) zu stillen.

Besonders signifikant ist die Gestaltung von „Traditionsinseln“ (Walter Grasskamp), die - künstlich geschaffen - einen stadthistorischen Aspekt bedienen sollen, wie zum Beispiel die Frankfurter Altstadt. Die qualitative Ausprägung urbaner Kultur stellt heutzutage eine Kapitalanlage dar und so kommt es zu gezielter Wertsteigerung bestimmter Stadtviertel und organisierter Festivalisierungsprojekte. Auch Kunst im öffentlichen Raum dient der Aufwertung urbanen Raums und soll auf die Orte identitätsstiftend wirken. Doch kann Kunst im öffentlichen Raum ihre Herkunft aus den hermetischen Räumen der Museen und Galerien nicht leugnen und scheint im Stadtbild oft deplatziert, wie ein Fremdkörper. So treten die sogenannten „drop sculptures“ (Jean-Christophe Ammann) erst gar nicht mit ihrer urbanen Umgebung in Kommunikation. Darüber hinaus lässt sich Kunst im öffentlichen Raum, abgesehen von ihrer örtlichen Zugänglichkeit, inhaltlich nur schwer erschließen. Sie ist meist durch Attribute der Verschleierung, Revision, Hinterfragung, Aneignung und Ablehnung gekennzeichnet. Diese offizielle Kunst verfehlt damit ihre Aufgabe, eigene Zeichen und Strukturen in der urbanen Semiosphäre zu produzieren.

Street Art hingegen ist nicht nur örtlich zugänglich, sondern lässt sich auch durch ihre einfache Bildsprache leichter erschließen. Ganz im Gegensatz zum ihr verwandten Graffiti-Writing. Die in den 1970ern in New York entstandene Subkultur bespielt den öffentlichen Raum hauptsächlich mit einer graphischen Herangehensweise. Das Graffiti-Writing arbeitet größtenteils mit Namen und Wörtern, die jedoch nicht zwingend mit ihrer urbanen Umgebung kommunizieren müssen. Dem Graffiti-Writing ist durch die illegale Beanspruchung des Raums eine subversive Tendenz immanent, auch wenn viele der Akteure nicht bewusst damit arbeiten. Diese subversive Tendenz ist es, die das Graffiti-Writing für viele Jugendliche so attraktiv macht. Doch auch der subkulturelle Aspekt stellt eine große Anziehungskraft für diese Gruppe dar. Meist mutet Graffiti für Außenstehende wie eine Geheimgesellschaft an. Im deutschsprachigen Raum gilt der Graffiti-Künstler Harald Naegeli als Begründer dieser Gattung. Naegeli entwickelte eine eigene zeichnerische, figürliche Sprache, die mit ihrem Untergrund und der Umgebung in intensive Kommunikation tritt. Diese Formsprache erschloss sich einem größeren Rezipientenkreis als das Graffiti-Writing.

Street Art hingegen, die ein weitaus größeres Repertoire an Methoden anbietet, ist verständlicher als das Graffiti-Writing. Sie ist im Gegensatz zum Graffiti kein „leerer Signifikant“ (Jean Baudrillard) und vermittelt ihre Botschaften in einer meist eindeutigen Bildsprache. Letztlich bemühen sich Akteure beider Gattungen gegen die Homogenisierung der modernen Großstädte und streben nach einer Rückeroberung des urbanen Raums. Dies geht meist mit einem gewissen agonistischen Verhalten gegenüber der Reklame und den Stadtbild prägenden Firmenlogos einher. So bemühen sich sowohl Graffiti-Writer als auch Street-Art-Akteure, die Zeichensysteme der Industrie zu unterlaufen, wenngleich die Street-Art-Künstler den sinnentleerten Raum identitätsstiftend bespielen und narrativ aufladen.

Das Malen und Gestalten auf Wänden reicht bis weit in die Kunstgeschichte hinein. So blicken die Street-Art-Künstler auf eine lange Tradition zurück. Auch bedienen sie sich der unterschiedlichsten Methoden, Formsprachen und Ikonen der Kunstgeschichte. Am auffälligsten ist der Einfluss der amerikanischen Graffiti-Subkultur. So haben viele der Street-Art-Künstler mit dem Graffiti-Writing ihre Laufbahn begonnen. Es übten allerdings auch Künstler wie Jean-Michel Basquiat und Keith Haring Einfluss auf die Street Art aus. Auch die Situationistische Internationale wirkte sich enorm auf die Arbeitsweisen der Street-Art-Künstler aus. Die Kunstgattung Street Art ist sehr weitläufig und umfasst alle möglichen Methoden der Kunst, sowohl Malerei und Plastik als auch performative Elemente und Installationen. Das bezeichnende für die Gattung ist somit nicht Technik, Stil oder Kunstform, sondern ihre Ansiedlung im urbanen Außenraum. Weiterhin zeichnet sie sich durch ihre ephemerale Qualität aus, dadurch, dass sie ungeschützt im städtischen Raum angebracht wird. Es wurden bereits viele Versuche unternommen, Street Art auszustellen, unter anderem auch im Ausstellungskonzept des White Cube. Doch da Street Art im urbanen Raum entsteht, mit ihm kommuniziert und auf ihn angewiesen ist, lehnen es viele Künstler ab, Arbeiten im Rahmen von Ausstellungen zu präsentieren. Auch versuchen sie, dem Museum als „kulturelles Endlager“ (Walter Grasskamp) zu entkommen. Für die Künstler ist der Aspekt der Vitalität sehr zentral. So laden sie die Rezipienten dazu ein, selbst aktiv zu werden und aus ihrer passiven Rolle als Konsument und Empfänger auszubrechen, und verlangen ihnen eine direkte Reaktion ab. Darüber hinaus befindet sich Street Art allein durch ihren Standort und dem Aspekt der Illegalität geradewegs in der Kontroverse. Sie löst direkt einen Diskurs aus, der in dieser Weise von in Museen befindlicher Kunst nicht erreicht wird. Museumskunst wird oft schon als offiziell akzeptierte Kunst wahrgenommen und nicht mehr hinterfragt. Allein ihr Standort scheint diesen Status zu bestätigen.

Street Art ist eine globale Form von Kunst. Besonders in Lateinamerika und im arabischen Sprachraum trifft sie auf bereits dagewesene Strömungen und Traditionen und bekommt neue Qualitäten. Als Kunstgattung, die sich meist piktoraler Elemente bedient, ist Street Art global verständlich. Diese Verständlichkeit stößt seltener auf Unmut bei den Rezipienten, als es beispielsweise Graffiti-Writing oder auch Kunst im öffentlichen Raum auslösen kann. So stellt Street Art eher eine Möglichkeit dar, im öffentlichen, anonymen Raum, der stark von Beschriftung und Logos geprägt ist, etwas Persönliches und Individuelles zu generieren, was sich auf die Orte und den Raum identitätsstiftend auswirkt und von einer personalisierten Aneignung zeugt. Der urbane Raum ist ein durchrationalisierter Raum, der entweder Zeichensystemen zur Orientierung unterliegt (im Sinne eines Durchgangsraums) oder von einem allgegenwärtigen Streben nach Erwirtschaftung durchdrungen ist.

Dadurch, dass Street Art und Reklame dieselben Kommunikationskanäle nutzen, stehen sie in einer agonistischen Beziehung zueinander. Das geht so weit, dass die Akteure die jeweils anderen Methoden, Formsprachen und Zeichensysteme imitieren, für sich nutzen und unterlaufen. So gibt es auf der einen Seite Street-Art-Künstler die sich darauf spezialisiert haben, mit und gegen Werbung zu arbeiten. Auf der anderen Seite hat die Werbung das kulturelle Kapital der Street Art für sich erkannt und zu nutzen gelernt. Es haben bereits einige Street-Art-Künstler für Marketingkampagnen gearbeitet. Diese kulturökonomische Verwertbarkeit wird von den meisten Künstlern als Sell-Out kritisiert und wirkt sich negativ auf die Authentizität der Gattung aus, die ihr prägendes Merkmal ist. Die Authentizität gilt auch auf dem Kunstmarkt als Qualitätskriterium, das die Nachfrage anregt. Durch den finanziellen Mehrwert wird allerdings ein Mechanismus in Gang gesetzt, der die Problematik des Underground und Mainstream aufwirft.

Der Verlust einer gesellschaftlichen Bedeutungsebene des urbanen Raums lädt dazu ein, sinnstiftende Lösungen zu suchen. Graffiti bietet eine graphische Antwort, die durch ihre hohe Kodierung nur bedingt wirkungsvoll ist. Sie unterstützt es jedoch, die Homogenisierung des modernen Stadtbilds zu beenden. Auch Kunst im öffentlichen Raum stellt keine Lösung zur Identitätsstiftung der „Nicht-Orte“ dar. Sie schafft es, durch ihre hohe Verschlüsselung nicht zu einer Individualisierung der Orte beizutragen. Auch der fehlende Bezug zur Umgebung trägt dazu bei. Street Art hingegen beinhaltet durch ihre Zugänglichkeit und verständliche Form eine höhere Wirkungskraft. Durch ihre intensive Kommunikation mit ihrer urbanen Umgebung bietet sie eine Möglichkeit, den durchrationalisierten Raum zu personalisieren und Identität zu stiften. So kann Street Art die bestehende Vormachtstellung der anonymen und bedeutungsleeren Zeichen unterlaufen und eine eigene narrative Kraft entwickeln.

Tamara Marszalkowski

Tamara Marszalkowski wurde in Warschau geboren. Sie hat Kunstgeschichte, Historische Ethnologie und Pädagogik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main studiert. In ihrer Magisterarbeit untersuchte sie die Beziehung und Entwicklung von Street Art und der Wahrnehmung des Stadtraums.