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Raumaneignung und urbanes Lernen: Stadt als offener Spiel- und Lernraum

23. September 2014
Meike Schuster
Wohnen & Leben
Stadt & Architektur
Wissenschaftliche Arbeiten

Der spatial turn hat inzwischen auch die Kontexte von Künsten, Kultur, Bildung und Sozialem erreicht: Ästhetische Erfahrungen werden immer in der sinnlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt gemacht, weshalb die natürliche oder künstlich geschaffene Umgebung großen Einfluss auf Lernen und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat. Vor diesem Hintergrund erhält der öffentliche Raum als existenzielle und personale Umwelt neue Bedeutung für ästhetische Erlebnisse und Aktivitäten. Diesen kulturpädagogisch zu erschließen und zu inszenieren wird zu einem neuen zentralen Ziel kulturell-ästhetischer Bildung.

Ästhetisches Lernen situativ – interaktiv – temporär – sozialräumlich  – partizipativ – medial  

Der kunstpädagogische Akzent des Folgenden, auch als außerschulische Perspektive, ist als Ergänzung und Erweiterng im pluralen Kontext Kultureller Bildung und kulturpädagogischer Praxis zu verstehen:

Ästhetisches Lernen fand lange Zeit offiziell und institutionell nur in geschlossenen Räumen und festen Gruppen - bestenfalls mit Exkursionen - statt und nannte sich Unterricht, Kurs oder Projekt. Die Öffnung von Schule und ein neues, erweitertes Verständnis von Lernen und Bildung erfolgte in vielen Teilschritten in den letzten hundert Jahren: von den ReformpädagogInnen Anfang des 20. Jahrhunderts, die das Subjekt in den Mittelpunkt rückten und Natur und Umwelt stärker einbezogen, über die lebensweltlich orientierte Forschung in den 1920er und 1930er Jahren in der Großstadt (vgl. Muchow in Zinnecker, Schoning 1987) bis zu den didaktisch-aktionistischen Erfindungen und Erneuerungen in den 1970er Jahren (vgl. Schuster 2013:9), z. B. mit der Programmatik "Umwelt als Lernraum" (Grüneisl/Mayrhofer/Zacharias 1973).

Zu dieser Zeit wurde ganz bewusst die urbane und lokale Umwelt als Raum für ästhetische Bildung verstanden, und die AkteurInnen entwickelten neue pädagogische Aktionsformen in der Stadtöffentlichkeit. Im Laufe der 1990er Jahre rückte der Raumbegriff selbst weiter in den Fokus und wurde aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven genauer betrachtet. Es kam zur raumkritischen Wende, dem spatial turn. Das Raumparadigma wurde somit variantenreich in verschiedenen systematischen Handlungsfeldern aktuell und sowohl diskurs- wie strukturrelevant behandelt. Gerade für die heutige Diskussion um das urbane Lernen spielt die Neuentdeckung des relationalen Erfahrungs- und Erlebnisraums durch den spatial turn eine entscheidende Rolle (vgl. Löw 2001). Damit wurde die topografisch-kartografierende Umgangsweise mit Räumen, Orten, sozialen Lebensumwelten für ästhetisches Lernen aktuell.

Für die modernen formalen, non-formalen und informellen Lernformen und pädagogischen Infrastrukturen sind die analogen Begriffe der Bildungs-, Lern- oder Spiellandschaften leitend. In der Stadtgestaltung sowie in Kultur und Kunst spricht man zunehmend von Kulturräumen und vom öffentlichen Raum als ästhetischen Erlebnis-, Erfahrungs- und Aktionsraum. Im Kontext der neuen digitalen Medien geht es um immaterielle globale Welten, den Cyberspace und das „globale Dorf“ als Raumerweiterungen.

Da heute ein Großteil der Raumerfahrungen von Kindern und Jugendlichen in künstlich-intentional geschaffenen Räumen stattfindet („Pädagogische Räume sind inszenierte Räume“ Liebau/Miller-Kipp u. a. 1999:11), ist es – gerade in der Beschäftigung mit Lern- und Bildungsprozessen – wichtig, die räumlichen Bedingungen von verschiedensten Orten ästhetischer Erlebnisse und Erfahrungen zu untersuchen und herauszustellen. Bei künstlerischen Prozessen kann die Wahrnehmung von Zeit und Raum durchaus den sonstigen zeiträumlichen Strukturen widersprechen, bzw. diese erweitern und transformieren. (Alltags-)Räume verwandeln sich und erscheinen in neuem Licht: Zwischenräume und -zeiten entstehen (vgl. Seitz 1996). Auch kindliche Zwischenräume (geheime Orte, Verstecke, Fantasie- und Medienwelten), in denen wichtige Selbstbildungs-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse stattfinden, gilt es damit zu berücksichtigen und aufzuwerten.

Perspektive Sozialraumorientierung

Der Terminus „Sozialraum“ beschreibt räumlich definierbare und messbare Lebenslagen, ökonomische Verhältnisse und unterschiedliche Defizitstrukturen, beispielsweise mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf. Im Verbund mit Jugendhilfe, Kultur-, Jugendarbeit und Schule wird im positiven Sinne das Subjekt, etwa das Kind oder der Jugendliche, zugunsten seiner aktiven Lebensweltaneignung und möglichen Bildungschancen im Mittelpunkt seines Sozialraums gesehen. Determinanten und Chancen für gelingende Sozialisation liegen in jeder Form von Umwelt: Schule, Jugendarbeit, Familie, Freundeskreis, Szene, Medienwelt oder dem öffentlichen Raum. Dies bedeutet öffentlich-professionell steigenden Kooperations- und Vernetzungsbedarf der AkteurInnen in lebensweltlichen, sozialräumlichen und expansiv zu nutzenden Territorien, die so zu attraktiven Räumen aktiver Aneignung werden können (vgl. Deinet 2008:724).

Dem eher weiten, raum- und subjektbezogenen Sozialraumverständnis ist eine sozialraumorientierte kunst- und kulturpädagogische Sichtweise verwandt. Hierbei liegt der Fokus auf räumlicher Präsenz und Repräsentanz künstlerischer, kultureller und ästhetischer Phänomene der jeweils erreichbaren und nutzbaren Lebens(um)welt. Sowohl die produktiv-gestaltende wie auch die partizipativ-interaktive Chance der Raumnutzung wird dabei als wertvoll gesehen und betont – als Möglichkeit professioneller Aktivierungs- und Aktionsangebote für die in diesem Kultur- und Sozialraum lebenden Kinder und Jugendlichen. Dies ermöglicht ästhetisches Lernen als Erfahrung, Erlebnis, Gestaltung vor Ort, in und außerhalb von Schule, in Kitas, Jugendarbeit und Kultureinrichtungen: „So können räumliche Strukturen Ermöglichungsbedingungen für partizipatorische Bildungsprozesse schaffen, z. B. in der Strukturierung von Schulräumen, Stadträumen, Medienräumen“ (Stutz 2012:7).

Auseinandersetzungen und Aneignungsformen mittels ästhetischer Prozesse in Sozialraum und der lokalen, urbanen Umwelt können die Mitsprache verschiedenster Menschen und damit auch die Teilhabe an einer demokratischen Öffentlichkeit ermöglichen und echte Urbanität entstehen lassen. Gerade offene kunst- und kulturpädagogische Angebote im Stadtraum bieten Kindern und Jugendlichen so Ausdrucksmöglichkeiten und geben ihnen eine eigene Stimme.

Leitende Begriffe ästhetischer Interaktion in öffentlichen Räumen

Die leitenden Begriffe und roten Fäden, die Entstehungs-, Begründungs- und Anwendungszusammenhänge in kunst- und kulturpädagogischer Theorie und Praxis aufzeigen, seien hier kurz genannt.

Situativ meint spezielle und nicht standardisiert-planbare, zeiträumliche und atmosphärische Gelegenheiten, bzw. Gegebenheiten. Diese entstehen aus eigensinnigen auch ästhetisch wahrnehmbaren und personell zufälligen Konstellationen mit authentischer Einmaligkeit in einem räumlichen (lokalen) Ensemble – mit jedoch zumindest vergleichbaren Mustern und möglichen Verlaufsformen.

Temporär meint zeitlich begrenzt, von einem Augenblick über Minuten, Stunden, Tage, Wochen bis hin zu Monaten, aber immer mit definierbarem Anfang und Ende. Es beschreibt die flexible zeitliche Dimension – idealerweise partizipativ und situativ – gemäß Interessen, Inhalten, Imaginationen, Bedingungen. Damit stehen temporäre Aktionen und Angebote in Differenz zu fixierten Zeitpartituren, etwa solchen des institutionellen Lernens.

Performativ ist die darstellende Methode und Absicht dessen, was geschieht, geplant und inszeniert wird. Damit ist immer ein offenes, vermittelndes und zumindest informell bildendes Interesse verbunden. Performativität ist somit ein wichtiger Teil des komplexen ästhetischen Lernens in öffentlichen Räumen und in sozialen und atmosphärischen Milieus.

Partizipativ bedeutet die Chance aktiver Teilhabe und idealerweise Mitgestaltung, Mitbestimmung dessen, was gerade geschieht oder was werden soll. Abhängig ist Partizipation als ein demokratieanaloges Kriterium ästhetischen Lernens von Ressourcen, Situationen und zeiträumlichen Gestaltungschancen.

Interaktiv betont die kommunikative Wechselwirkung als individuelles Potenzial, als Bereicherung von Verläufen und Entwicklungen sowie die performative Partizipation bei situativ-temporären Anlässen, Projekten, Ereignissen und Abläufen. Zum Teil ist Interaktion selbstbildend und kompetenzfördernd.

Intervention als aktuelle künstlerische Strategie bedeutet Einmischen, Mitmischen, Eingreifen in Bestehendes. Es geht um Veränderungen, für die aktives Handeln Voraussetzung und Bedingung ist. Eine Intervetion stellt den Versuch dar, Raum neu und anders zu behandeln und zu nutzen und kann als Anstoß eines Veränderungsprozesses gesehen werden.

Die angeführten Wortdeutungen basieren auf einem weiten Verständnis des Ästhetischen: von Wahrnehmung bis Künste, von Sinneserfahrungen bis Symbolrezeption, -produktion und bis hin zu Medien und pluralen soziokulturellen Erscheinungs- und Ausdrucksformen. In diesem Verständnis übersteigt und unterfüttert das Ästhetische zeitspezifisch das, was jeweils als das Künstlerische (bzw. in kanonisierten/curricularisierten Formen als Kunst) bezeichnet und fixiert wird.

Ästhetisches Lernen im urbanen Raum

Ästhetische Erlebnisse und Erfahrungen werden immer in der sinnlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt gemacht, weshalb die natürliche oder künstlich geschaffene Umgebung großen Einfluss auf Lernen und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat. Deutlich wird außerdem aus verschiedenen, auch historischen Blickwinkeln und Positionen (vgl. Dewey 1934, 1938), dass Räume sowie deren Bedingungen und Angebote auf unterschiedlichste Weise intensiv auf ästhetische Lernprozesse wirken. Kinder und Jugendliche sollten sich deshalb gerade ihrer urbanen Umwelt nicht machtlos gegenüber sehen, die aktive eigenständige Gestaltung und – im Bezug zur Lebenswelt – die freie und selbstbewusste Aneignung mit ästhetischen Mitteln und Methoden sind für sie der Schlüssel zur Partizipation (vgl. Brandstätter 2012:174, Krinninger/Schubert 2009:19, Peez 2012:439).

Auch Atmosphären tragen zur Erzeugung einer spezifischen Räumlichkeit bei, so ist die leibliche (Raum-)Wahrnehmung eng verknüpft mit und abhängig von der Atmosphäre. Wahrnehmung ist für den Philosophen Gernot Böhme Bedingung für die leibliche Anwesenheit, durch sie fühlt der Mensch seine Gegenwart im Raum. Wahrnehmung ist damit das Spüren der eigenen Anwesenheit und einer bestimmten Atmosphäre. Das Potenzial von Atmosphären in Bezug zur kultur- und kunstpädagogischen Praxis stellt Böhme heraus: „Die ästhetische Arbeit besteht darin, Dingen, Umgebungen oder auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften zu geben, die von ihnen etwas ausgehen lassen. D. h. es geht darum, durch die Arbeit am Gegenstand Atmosphären zu machen“ (Böhme 1995:35). Atmosphären kann man also erzeugen, sie können durch bewusste Anordnung von Dingen hergestellt werden. Durch die ästhetisch-künstlerische Auseinandersetzung mit urbanenRäumen kann eine neue Feinfühligkeit, ein Erkennen von Raumelementen, die zu Atmosphären beitragen, entstehen, verknüpft dann mit einer reflektierteren Auseinandersetzung des täglich Wahrgenommenen.

Bei künstlerischer Praxis im öffentlichen Raum stellen sich wichtige Fragen der Teilhabegerechtigkeit, Offenheit und Barrierelosigkeit der Formate und Projekte: Bestehen Partizipationsmöglichkeiten für Interessierte aller Herkünfte und (kultureller) Hintergründe? Ist die (Lern-) Umwelt künstlich vorgefertigt oder besteht die Möglichkeit, diese zu verändern, mit- und umzugestalten? Dürfen Kinder und Jugendliche sich auch im öffentlichen Raum gestaltend und frei bewegen, diesen für ihre Bedürfnisse nutzen und sich aneignen? Können viele dieser Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, ist durch ästhetische Prozesse „kulturelle Teilhabe im Sinne von Selbstwirksamkeit möglich, das ist das Gefühl, an wichtigen Prozessen des kulturellen Lebens mitwirken zu können, das eigene Denken, Tun, Gestalten und Entscheiden als wirksam zu erleben“ (Peters 2012:9). Mit diesen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet, können die Heranwachsenden zu einem aktiven, ernstzunehmenden, unbequemen und bereichernden Teil der Gesellschaft werden. Eine mögliche und kunstpädagogisch ausgearbeitete Methode in diesem Zusammenhang ist das "Mapping", die künstlerische Kartierung eines zuvor definierten Feldes (vgl. Heil 2006).

Die Frage, wer wie und unter welchen Bedingungen gerade den öffentlichen Stadtraum für sich nutzen kann, wird ständig neu ausgehandelt. Oft sind die Möglichkeiten der Raumaneignung und der (gestalterischen) Einflussnahme ungleich verteilt und Kinder und Jugendliche in solchen Prozessen unterrepräsentiert (Thuswald 2010:18). Dies beschreibt die britische Performancekünstlerin Lottie Child: „The way that many urban spaces are designed and inhabited engenders an inability to see, experience and therefore engage with the forces that script our experience and identities“ (Child 2010:60).Durch die Folgen eines reglementierten, mit Verhaltensnormen belegten Stadtraums fehlen Gelegenheiten, aktiv Erfahrungen auf Plätzen, in Grünanlagen und Straßen zu machen. Child will mit ihrem spielerisch-experimentellen Erkunden von Stadträumen einen sinnlichen Zugang zu diesen eröffnen und Aneignungstätigkeiten anstoßen, auch weil sie darin eine starke politische Ausdrucksmöglichkeit sieht: „The ability to co-produce, to script and map, the multiplicity of forces at play in city streets – through training ourselves in spontaneous, joyful acts in public places – may be the most effective personalised combination of artistic and political expression we can develop“ (ebd.:57).Ästhetisches Lernen im öffentlichen Raum bedeutet damit im kunstpädagogischen Horizont spielerisch-symbolische Grenzüberschreitungen und experimentell-biografische Suchbewegungen – temporär, irritativ und durchaus didaktisch intentional.

Durch die individuelle kreative Aneignung kann die urbane Umwelt zum Handlungs- und Erfahrungsraum und in Kombination mit der Chance zu freier Wahlmöglichkeit und aktiver, eigentätiger Gestaltung zum Lebensraum werden (vgl. Mörth/Rausch 1986:40).Die Herausforderung für die Heranwachsenden besteht darin, unter dem Eindruck des vielschichtigen menschlichen und situativen Nebeneinanders in der modernen (Groß-)Stadt sich selbst und den eigenen Lebensweg zu finden. Dies gelingt, wenn sie sich in Handlungen, Kompetenzen und Interessen in ihrer Lebensumwelt erproben können. Stadtraum wird dann durch die Erweiterung des Handlungsraums, die eigenständige Nutzung von neuen Räumen, die Erweiterung der motorischen Fähigkeiten im Umgang mit Gegenständen, Werkzeugen und Materialien und die Veränderung von Situationen angeeignet (vgl. Deinet 2005:117).Damit birgt Partizipation im öffentlichen Raum ein spannendes Potenzial: nämlich „Menschen zu ermächtigen, diesen öffentlichen Raum wieder stückweise für sich zu nutzen; zu lernen wie die Partizipationschancen, die vielbeschworenen, genutzt werden können. Die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, mit künstlerischer Produktion bietet dazu einen Ausgangspunkt und Einstieg, der letztendlich dazu führen kann, sich Raum anzueignen, ihn mitzugestalten“ (Schanner 2010:170).

Kunst- und Kulturvermittlung im öffentlichen (Stadt-)Raum können also auch eine Form von Öffentlichkeitsarbeit darstellen bzw. beinhaltet die Möglichkeit, bestimmten Gruppen eine Stimme zu geben (vgl. ebd.:172). Wenn sie eng mit dem Leben von Kindern und Jugendlichen verzahnt ist, kann gerade die künstlerisch-kulturelle Bildung immer auch anteilig als soziale und politische Bildung aufgefasst werden (vgl. Fuchs 2008:227). Für die kunstpädagogischen und kulturvermittelnden Konzepte, die hier ansetzen, gilt es Rahmenbedingungen herzustellen, unter denen urbanes Lernen gelingen kann, und herauszufinden, welche Umstände, Umgebungen und (Bildungs-)Angebote Kindern und Jugendlichen dabei helfen, ihren städtischen Lebensraum bewusst und aktiv zu nutzen. Denn ob Erfahrungsprozesse gelingen, hängt, neben individuellen Ressourcen und Verhalten, besonders von der Offenheit, Beschaffung und den Angeboten der sozialen Umwelt ab (vgl. Krinninger/Schubert 2009:33) – speziell von deren ästhetischer Qualität.

Kunst- und Kulturvermittlung als Transformationsprozess im Stadtraum

Wie können Projekte und Aktionen aussehen, die junge Menschen im urbanen Raum aktiv werden lassen? In jedem Fall ist eine kritische Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den vermittelnden Kunst- und Kulturangeboten notwendig, da diese als symbolische Schwelle (vgl. Bourdieu in Lewitzky 2005:66) fungieren können, wenn diese nicht für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich sind. Somit kann auch Kunst im öffentlichen Raum genauso wie die Bildungsprogramme von Museen oder Galerien durch ihre oft vorhandene Exklusivität zur Abgrenzung beitragen (vgl. Lewitzky 2005:65f.). Dabei müssten gerade KünstlerInnen und KulturarbeiterInnen ihre Aufgabe in der ästhetischen Vermittlungsarbeit im öffentlichen Raum darin sehen, sich mit den schwächeren Schichten zu solidarisieren und deren Interessen mit ihrem kulturellen Kapital unterstützen und durch künstlerische und kulturelle Programme im Stadtraum Öffentlichkeit herstellen. Die Funktion der KulturvermittlerInnen sollte eine aufklärerische und politische sein, eine wissensvermittelnde, die den Benachteiligten beim Erkennen und Überwinden gesellschaftlicher Schranken hilft (vgl. ebd.:68).

Die Möglichkeit zur Teilhabe und zum Mitgestalten von Stadtvierteln und unmittelbaren Lebensumwelten kann sowohl für die AkteurInnen als auch für die Entwicklung der Stadt und ihrer Teile selbst von nachhaltigem Gewinn sein. Künste und Kulturen sind deshalb ein elementarer Bestandteil von Kulturarbeit mit engem Bezug zur Lebenswelt, weil sie neue Perspektiven und Ansätze eröffnen und Raum für Experimente und mutige Handlungsformen bieten können, so der Kulturwissenschaftler und zivilgesellschaftlicher Kulturpolitiker Bernd Wagner (vgl. Wagner 2012:9ff.). Für ein demokratisches Zusammenleben im Stadtteil kann die Leitidee „Kultur für alle“ (Hilmar Hoffmann 1979) zum Schlüssel werden, wenn Kunst- und Kulturarbeit Menschen aller Schichten, Kulturen und Altersgruppen erreicht und ihnen Wissen über und Stolz auf ihre individuellen Stärken vermittelt. Soziale Stadtteilkulturarbeit ist, nach Kulturwissenschaftlerin Dorothea Kolland, dann von Dauer und Nachhaltigkeit geprägt, wenn sie gemeinschaftliche Arbeitsprozesse fördert und Themen behandelt, die die Menschen vor Ort direkt betreffen (vgl. Kolland 2012:53ff.). „Sie ist demnach wichtiger Bestandteil von Urbanität, denn was ist Urbanität anderes als bewusstes, sinnvolles Miteinanderleben und -arbeiten in einem bestimmten gebauten, gestalteten Raum?“ (ebd.:60)

Weitere Voraussetzungen für fruchtbare kulturelle Entwicklungen und Bildungsprozesse im Stadtteil sind Kooperation und Zusammenarbeit, vor allem aber die vernetzende Öffnung der verschiedenen Institutionen, Träger, Referate, Einrichtungen, Vereine, Schulen und BürgerInnen. Für Staat und Kommune gilt es, die Rahmenbedingungen für Sicherung und Weiterentwicklung kultureller Vielfalt zu schaffen und so Teilhabe und Zugang zu kulturellen Prozessen und Programmen für alle BürgerInnen zu ermöglichen. Gerade in einer Lebensrealität, die für viele Menschen von Unsicherheit, wenig sozialer Verankerung und einer befremdlich heterogenen Gesellschaft geprägt ist, können Kulturarbeit und Kulturelle Bildung Kreativität, Toleranz, Ausdrucksfähigkeit und Verständnis für fremde Lebensweisen und Vorstellungen fördern (vgl. ebd.:62f.). So kann interkulturelle Kulturarbeit eine „Plattform der Begegnung“ (ebd.:63) schaffen und als Raum für Kommunikation zu Dialogen zwischen den verschiedensten Menschen und damit bereichernde kulturelle Diversität anregen. Auf diese Weise können „die Leute sehen, dass sie es wert sind, von der Kunst aufgesucht zu werden“ (Loch in SZ, 06./07.07.2013). Genau das sind mögliche Mehrwerte ästhetischen Lernens.

Damit geht es heute nicht darum, nur exklusive kulturelle Angebote zu schaffen oder die Stadt in künstlerischer Praxis und Absicht möglichst repräsentativ zu dekorieren, „sondern sich im Rahmen einer interventionistischen und partizipatorischen Praxis für die Menschen einzusetzen, die, zusammen mit ihren Bedürfnissen und Problemen innerhalb des Erlebens der Neuen Urbanität zusehends aus unserer Wahrnehmung verschwinden“. (Lewitzky 2005:8) Ein von Partizipation und Inklusion geprägtes Vorgehen in der kulturell-künstlerischen Aneignung von städtischem Raum und in bildender Intention ist somit für die Entwicklung jeder Stadt und Gemeinde elementar.

Zum Lebens-, Handlungs- und Erfahrungsraum, in dem gehört, gesprochen wird und in dem sich Dinge bewegen und verschieben lassen, kann die städtische Lebensumwelt für Kinder und Jugendliche also vor allem durch individuelle Aneignung und Gestaltung werden, beispielsweise wenn durch entsprechende kunst- und kulturpädagogische Programme und Angebote Wahlmöglichkeiten und Freiräume gegeben sind (vgl. Mörth/Rausch 1986:40). Es gilt dabei für StadtbewohnerInnen jeden Alters die Möglichkeit zu schaffen, sich aktiv als Individuum im Kulturraum Stadt zu positionieren, sich dort zu bewegen und gestaltend zu handeln (vgl. Bering/Rooch 2008:208).

Spiel als Intervention und Interaktion

Im zeiträumlichen Zusammenhang zeigt das Spiel sein intervenierendes Veränderungspotenzial, weil es Zeiträume dehnt und ein Dazwischen bildet. Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott sprach in diesem Kontext von „intermediären“ oder „potenziellen Räumen“, in denen Fantasiewelten zwischen Innen und Außen entstehen können. Damit geht es um Räume des Übergangs zwischen Entwicklungsstufen und den Zustand der Liminalität, durch den neue Richtungen und Wege beschreitbar werden (vgl. Wetzel 2005:43). Durch Fantasietätigkeit, Einbildungskraft, Imagination und partizipative symbolische Komplizenschaft eröffnet das Spiel Möglichkeitsräume.

Ein wichtiger Aspekt der Raumerfahrung durch Spielaktionen entsteht mittels der intensiven leiblichen Eingebundenheit. Raumgreifende Spiele lassen Heranwachsende ihre körperlichen Fähigkeiten erproben und schließlich Geschicklichkeiten in bestimmten Bewegungsabläufen entwickeln. Kinder und Jugendliche können sich experimentell in einer Gruppe einordnen, Teil eines Teams werden und den Stadtraum so gemeinsam, unter Inanspruchnahme ihrer Sinne und Bewegungen, erkunden. Für Zacharias ist solch „freies umweltbezogenes Spiel der Kinder nicht Spielerei, sondern Weltaneignung, und die Versicherung sinnlicher Gewißheit durch Bewegung im Raum. Es ist auch eine ideale Form ästhetischer Aktivität in Auseinandersetzung nicht mit einzelnen kulturellen Teilen der, sondern mit der ganzen gegebenen Wirklichkeit“ (Zacharias 1989:68).

Gerade durch spielerische Aktionen in der städtischen Umgebung bekommen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit für selbstständiges und fantasievolles Gestalten und freie Bewegung, die Botschaft an die jungen AkteurInnen lautet damit: Ihr dürft euch auch im öffentlichen Raum Platz für eure Spiele nehmen und diesen durch euer Handeln einfordern. Spielformen ermöglichen ästhetische, irritative, experimentelle, fantasievolle, abgesprochen und offen geregelte Aktivitäten und Lernformen, auch weichen sie von existenten Wirklichkeiten, Logiken und Zwängen ab. Letztendlich geht dieses Verständnis des Spielens auf Friedrich Schillers Briefe "Über die ästhetischen Erziehung des Menschen" um 1800 zurück, einem konzeptionellen Meilenstein in der Geschichte ästhetischer Bildung.

Künstlerisch-spielerische Aktionen und Elemente sind inzwischen vielfach im Kontext Kultureller Bildung zu finden: Pädagogen verstehen das Spiel heute als Kulturgut. Bei spielerischen und künstlerischen Handlungen, die sich durchaus überlagern, geht es darum, mit allen Sinnen den Umraum zu erleben, spontan und kreativ auf diesen zu reagieren und in ihm Platz für die eigene Entwicklung zu finden. In der modernen Spielpädagogik manifestierten sich solche Gedanken und Intentionen langfristig.

Ähnliche Erkenntnisse kamen inzwischen auch in großen Museen und Ausstellungshäusern wie der Frankfurter Kunsthalle Schirn mit dem Großprojekt „Playing the City 3“ (2011) und dem Haus der Kunst in München mit der Ausstellung „Move: Choreographing You“ (2011) zu Tragen. Körperliche Erfahrungen und aktive Weltaneignung sind sowohl bei modernen künstlerischen Werken und Performances als auch im Spiel wesentliche Elemente. Die Ausstellung im Haus der Kunst brachte Kunst, Tanz, Bewegung, Spiel und Performance so eng zusammen, dass Grenzen verschwammen. Kunstvermittlung geschieht in diesem Zusammenhang nicht mehr im klassischen Sinn über reine Wissensvermittlung von Kunstwerken, deren geschichtlichen Hintergründen, Kunsthandwerk und -techniken, sondern durch das emotionale Erleben und die Tätigkeit: Situatives, temporäres, urbanes Lernen steht im Vordergrund.

Bildungsprozesse in digital-medialen Räumen

Die technisch-medialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben deutliche Auswirkungen auf die subjektive Wirklichkeitserfahrung: Weniger die sinnlich-leibliche, gegenständliche Aneignung von realen Räumen als vielmehr die immateriell-medialen Erfahrungen virtueller Räume bestimmen heute den Alltag des Aufwachsens. Durch das Leben mit digitalen Medien werden imaginäre Räume zentral, womit körperliche Raum-Zeit Erfahrungen verschwinden (vgl. Niesyto 2012:54). Die neuen technisch-medialen Möglichkeiten bergen viele Vorteile, wie die interaktiv-gestaltende Wissensproduktion, jedoch verändern sich auch Narrationsstrukturen und Beziehungsmuster: „Es geht um das Gewinnen neuer Perspektiven für eigene Lebenssituationen und soziale Deutungsmuster, um Prozesse des reflexiven Vergleichens und Neu-Interpretierens von Erfahrungsbeständen“ (ebd.:59). Reflexionsfähigkeit ist auf medial-ästhetischer Ebene durch symbolisches Handeln in virtuellen Räumen zu erlangen, beispielsweise fördern Blogs und offene Plattformen Interaktion (vgl. ebd.:60). Auf Wissensplattformen wie Wikipedia, insbesondere aber in den sozialen Netzwerken von Twitter bis Facebook, können Inhalte und Wissen aktiv gestaltet und kommuniziert werden. Hier ist (symbolische) Interaktion und kommunikative Teilhabe möglich. Damit konstituieren sich Bedeutungen als subjektive Wahrnehmung im bewusst-gestaltenden Akt mit, der Lernende wird intensiv in den Wissensaufbau mit eingebunden, Lernen wird zum partizipativen Prozess symbolischen Handelns (vgl. Metten 2007:247).

Auch digitale Medien stellen damit eine Schnittstelle, ein Dazwischen dar, gerade weil gesellschaftlicher Austausch heute oft mittels Interaktionsmedien wie Chats, Blogs und Computerspielen stattfindet (vgl. Thiedeke 2012:120ff.). Im räumlichen Bezug kann das Medium Internet zur Schwelle werden, die den Übergang in eine Welt voller Neuem und Wissen beschreibt. Digitale Räume können so zu Räumen des Übergangs und Orten des Lernens werden und damit per se zu neuen Handlungsräumen für Kinder und Jugendliche (vgl. Metten 2007:238ff.).

Die intensive Nutzung (und damit die partizipative-kommunikative Schaffung) des Internets unterstreicht das moderne Verständnis von Raum, der heute als dynamisch, offen und veränderbar aufgefasst wird und sich durch Handlungen und Kommunikationsprozesse konstituiert. Damit wird der virtuelle Lernraum zum Ort der Neudeutung und der Transformation. „Eine solche Vorstellung des Lernens setzt ein prozessuales Verständnis voraus, welches eine Dynamik als Bewegung zwischen verschiedenen Verständnissen betont. Lernen setzt daher eine Pluralität der Orte, Positionen, Schnittstellen etc. voraus, da Lernen sich als ein dynamisches, interaktives Geschehen gestaltet, welches sich in Beziehungen und in der Bewegung abspielt“ (ebd.:243).

Auch Kunst- und Kulturpädagoge Wolfgang Zacharias sieht kulturell-ästhetische Medienbildung verbunden mit anregenden Rahmenbedingungen wie einer geeigneten Lernumgebung, einem geschützten Raum und professionellen Vermittlern als einen selbstbildenden, biografischen Prozess. Die digitalen Medien strukturieren heute die menschliche Wahrnehmung intensiv. Daher gilt es, diese positiv zu nutzen und beispielsweise das Internet auch als gesellschaftlichen Möglichkeitsraum zu verstehen (vgl. Zacharias 2010:51f.). Die digitale Welt als Raum für Austausch, Interaktion und Partizipation wahrzunehmen und als solchen zu vermitteln, stellt generell eine wichtige Herausforderung für Kunst- und Kulturpädagogen dar. Zu oft wird dieser mediale Raum noch ausgegrenzt und kunstpädagogisch sowie erziehungswissenschaftlich nicht bedacht oder unterschätzt. Doch gerade auch für Aktionen und Projekte im Stadtraum bietet das Internet spannende Perspektiven der Teilhabe, des Weiterdenkens und des Verbreitens von neuen, ungewohnten Ideen und Ansätzen. Es gilt, die Chance für Vertiefung und Ausweitung sinnlicher Wahrnehmungen und virtueller Entfaltung zu nutzen, die entsteht, wenn sich viele Menschen, unabhängig von körperlichen oder geografischen Einschränkungen, frei und kreativ an medialen Räumen beteiligen können. Ein Qualitätskriterium kulturpädagogischer Projekte, die mediale Elemente beinhalten und nutzen, ist außerdem, sich den Widersprüchen und Spannungen zwischen Mensch und Technik zu stellen, und diese produktiv und kreativ zu nutzen (vgl. Vogt 2004:8f.).

Generell zeigt sich der positive Wandel, den die medialen Entwicklungen zur Folge haben, in offenen Informationswelten und individuellen Ausdrucksformen. Die technischen und sozialen Möglichkeiten des Web 2.0 eröffnen unabhängig von Ort und Zeit neue gemeinschaftlich-interaktive Wissensräume und Strukturen, wodurch sich die Verhältnisse und Bedingungen für Bildungs- und Lernprozesse ändern und digitale Ästhetiken neue, authentische Ausdrucksmöglichkeiten bieten. Der Zusammenhang zwischen formaler Bildung und reflektiertem Medienumgang tritt deutlich hervor: Die Nutzung der medialen Möglichkeiten ist abhängig von bereits ausgebildeten kreativen und reflexiven Kompetenzen. Es ist daher wichtig, den Umgang mit Medien breit zu fördern, damit Hintergründe und Intentionen von Programmen und virtuellen Angeboten entschlüsselt und eingeordnet werden können. Dies sollte immer unter Berücksichtigung der individuellen Ressourcen von Kindern und Jugendlichen sowie der sozialen Lebensumwelt und in Begleitung von erfahrenen Kunst-, Kultur- und Medienpädagogen geschehen (vgl. Niesyto 2012:60ff.).

Ästhetisches Lernen 2.0

Zusammenfassend ist aktive und partizipative Raumerfahrung im Kontext ästhetischen Lernens ein äußerst zeitgemäßes Thema Kultureller Bildung mit eigenständigen Profilen und unterschiedlichen methodischen Anforderungen. Einerseits besteht die Aktualität des spatial turns, also des unmittelbar-symbolischen Raumerlebens und dessen neu erkannte Bedeutung auch für Raumgestaltung, für ästhetisches Lernen und Raumbildung. Hierzu gilt es offene, partizipative und temporäre Formen direkt im Umgang mit öffentlichen Räumen, besonderen Orten und performativen Aktionen zu inszenieren: als kunst- und kulturpädagogische Methode gerade auch jenseits von Schule. Andererseits gilt es, ein balanciertes Gleichgewicht zwischen medial-digitaler Wahrnehmung und Kommunikation im Rahmen Kultureller Bildung sowie reale sinnlich-leibliche Raum- und Zeiterfahrungen zu entwickeln und zu stärken: durch Komplementarität und Revalidierung von ästhetischem Lernen als innovative kunst- und kulturpädagogische Programmatik, die es "chronotopologisch" als Praxis zu entwickeln gilt (vgl. Schuster 2013).

Den gesamten Text sowie die umfassenden Literaturangaben finden Sie hier als PDF.

Die ausführliche Publikation "Stadt(t)räume – Ästhetisches Lernen im öffentlichen Raum" von Meike Schuster können Sie hier erwerben.

Meike Schuster

Meike Schuster ist Kunst- und Kulturpädagogin. Aktuell absolviert sie ihr Promotionsstudium an der Universität Duisburg-Essen, wo sie auch einem Lehrauftrag für Kunstpädagogik/Didaktik nachgeht.
Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen kulturell-künstlerische Vermittlungsarbeit, das ästhetische Lernen im öffentlichen Raum, kreative Raumaneignung sowie urbane Zwischenräume.